"Bach als Ausgangspunkt, als Koordinatensystem. Als Bezugspunkt für Vergangenes, ebenso für Entwicklungen, die in weite Zukunft weisen. Als Konzentrat formaler Prinzipien, ohne die ein Großteil der Kunstmusik in Vergangenheit und Gegenwart nicht funktionieren würde. Oder einfach: Als beseelte Musik, um sich darin zu verlieren, losgelöst von Mode und Konvention. Wenn Alexandra Sostmann das Programm ihrer neuen CD mit einem von Johann Sebastian Bachs Ricercari aus dem Musikalischen Opfer eröffnet, drängt sich als erstes letztere Assoziation auf. Ja, diese kreative Pianistin hört mit sensiblem Ohr in den Notentext hinein, lotet sehr unmittelbar tiefe Strukturen und Relationen aus, denen sie eine atmende, manchmal eigensinnige Kontur verleiht. Und was beim ersten Hören vielleicht noch überraschend und auch etwas rätselhaft anmutet, wird zunehmend plausibler. Denn in den folgen, extrem konträren Werken kommen nun die anderen, eingangs erwähnten Bezugspunkte zu Bachs Musik ins Spiel. Zugleich offenbart sich in der Herangehensweise dieser Interpretin ein erfrischender Forschergeist, dem die vorhandenen pianistischen Mittel auch in jeder Hinsicht gerecht werden. Kühne Zeitsprünge leistet sich dieses Programm, aber ohne dass irgend etwas beliebig anmutet. Es geht immer um die Freilegung gemeinsamer Wesensmerkmal hinter allen konträren Oberflächen – und immer wieder kontrapunktische Strukturen. Diese sind in den wuchtigen Klangballungen und rhythmischen Vertracktheiten von Oliver Knussens Prayer bell scetch genauso tief drin wie in John Taveners liedhaft-choralartigem Lord's Prayer. Will man gedanklich die Brücke zu Bach schlagen, sagt dies jetzt: Es darf hier nicht nur von erhabener, manchmal strenger Tonarchitektur die Rede sein, sondern ebenso von tiefer Empfindsamkeit, oft genährt von uralter Musiktradition. Feinfühliger, tänzerischer, musikantischer als es Alexandra Sostmann in Williams Byrds Pavan and Gaillard praktiziert, lässt sich dies wohl kaum darstellen. Überhaupt John Taverner, der es der Pianistin hier ganz besonders angetan hat: Dessen Stücke bescheren dem Programm einige Wechselbäder von hauchzart bis hin zu modal-raffiniert wie im Stück Zodiacs. In Markus Horns Piece after Byrd durchstürmt Alexandra Sostmanns Spiel im Sauseschritt die Epochen, wenn die Diktion eines Originals aus der Renaissance machtvoll in jazzig auftrumpfende Ableitungen hinein vordringt. Orlando Gibbons entführt nach dem vorherigen improvisatorisch ausufernden Exkurs dann wieder in den Affektreichtum der Alten Musik, wo die Saiten etwas perkussiv und spitz erklingen – so, als wäre hier kein moderner Flügel am Werk. Überhaupt sind Klänge aus der Vergangenheit näher an modernem Repertoire dran, weil sie nach wie vor so unverbraucht anmuten. Deswegen können sich auch die assoziativen, skulpturhaften Klangimpulse in einem neuen Stück von Xiaoyong Chen hier plausibel behaupten. Und schließlich kommt die assoziative, fast labyrinthische Ideenreise an ein Ziel: Wie ein bezwingendes, zur Ruhe mahnendes Fazit beschließt ein weiteres, diesmal sehr getragenes Ricercar von Johann Sebastian Bach das Programm – so als würden die vorausgegangenen Neuentdeckungen nun würdig kommentiert. Alexandra Sostmann eröffnet mit diesem Programm neue Erfahrungshorizonte, dazu gehört auch, musikalische Gegenwart aus ihren elitären Reservaten zu befreien, überhaupt musikalische Botschaften aus dem Zeitkontext heraus zu lösen. Beeindruckend."