Ein Beitrag von Beatrice Ballin im Orchestergraben
Neapel sehen und sterben? Nein, Neapel hören und genießen! Der Bariton Daniel Di Prinzio und der Gitarrist Ihor Kordiuk gestatten uns dieses wunderbare Erlebnis mit ihrer neuerschienenen CD „Profumi di Napoli“. Beatrice Ballin befragte sie zu diesem musikalischen Kleinod.
Was zeichnet die typische Canzone napoletana aus? Wann entstand sie?
Daniel Di Prinzio: In der neapolitanischen Canzone (lyrische Musikform, Anm. d. Red.) spiegeln sich Eindrücke aus der Stadt Neapel und ihrer Umgebung, sowie szenetypische Themen ihrer Einwohner unter Nutzung des dortigen Dialekts wider. Das neapolitanische Lied verbindet traditionelle Volkslieder heiterer und malerischer Natur mit klassischer Musik. Die Ursprünge stammen bereits aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert. Als erste Canzone Napoletana gilt: “Te voglio bene assaje” gedichtet von Raffaele Sacco und komponiert von Filippo Campanella im Jahr 1839.
Mitte des 19. Jahrhunderts machte sie eine inhaltliche Entwicklung durch. Wie kam es dazu?
Daniel Di Prinzio: Die naturalistischen und scherzhaften Themen, die die ersten neapolitanischen Canzoni prägten, wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark vom großen Erfolg der Oper buffa beeinflusst. Mit ihr änderten sich auch die Inhalte. Fröhliche Tarantellen wichen immer häufiger dramatischeren und pessimistischeren Motiven, besonders im Zusammenhang mit Liebeskummer.
Die Canzoni werden von der Gitarre begleitet. Das klingt sehr authentisch, und man fühlt sich beim Zuhören auf eine süditalienische Piazza versetzt und kann die Profumi di Napoli förmlich riechen. Sie haben für Ihre Aufnahme eine besondere Gitarre gewählt, nämlich eine exakte Nachbildung der „Leona“, die 1896 von dem Gitarrenbaumeister Antonio de Torres gefertigt wurde. Welche Vorzüge hat diese Gitarre?
Ihor Kordiuk: Danke für die interessante Frage. Meine Hauptgitarre zurzeit ist ein Instrument des deutschen Gitarrenbauers Julian Dammann mit einer modernen sogenannten “Sandwich”-Konstruktion. Diese Bauweise ermöglicht einen lauten und durchsetzungsfähigen Klang, der auch in größeren Konzertsälen ohne Verstärkung gut zur Geltung kommt. Allerdings passt diese Gitarre stilistisch nicht für die Aufnahme dieses Projekts. Deshalb wandte ich mich an den deutschen Meister Gerhard Oldiges, einen Experten für Gitarrenbau und Ästhetik des von mir benötigten Zeitraums. Er war so freundlich, mir für die Aufnahme eine Nachbildung der „La Leona“ von Antonio de Torres aus dem Jahr 1896 zu leihen. Ja, diese Gitarre ist vielleicht nicht so laut, aber das ist hier auch nicht nötig. Sie besticht durch ihren unvergleichlichen Klang, ihre Farbenvielfalt, den tiefen, warmen Bass und die Klarheit der gesamten Struktur. Beim Spielen auf diesem Instrument hatte ich keinerlei Zweifel daran, dass es genau das ist, was für diese Art von Musik erforderlich ist.
In Ihrem Booklet schreiben Sie, dass Ihre CD wie ein Menü aufgebaut ist. Die Vorspeisen sind Solostücke für Gitarre, die jedem Lied vorangestellt werden. Sie stammen aus Mauro Giulianis Gitarrenzyklus „Auswahl meiner Lieblingsblumen“. Wie kam Ihnen die Idee, die Canzoni napoletane mit dem Gitarrenzyklus zu verbinden?
Ihor Kordiuk: Diese Idee kam uns bei einem der Konzerte. Daniel und ich bemerkten, dass das Interesse der Zuhörer wächst, wenn sie auf das Hauptstück warten. Es ist wie das Warten auf das Hauptgericht, wenn der Chefkoch Ihnen zuerst eine Vorspeise bringt. Die Zuhörer stimmen sich auf etwas Größeres ein, wenn ein entspanntes Solo-Stück von Giuliani als Präludium erklingt. Zudem kann jeder in diesen kleinen Stücken seine eigenen verborgenen Bedeutungen finden.
Ihor Kordiuk, Mauro Giuliani hat verschiedene Kompositionstechniken verwendet, um die Charaktereigenschaften der Blumen zu beschreiben. Können Sie ein bis zwei Beispiele nennen?
Ihor Kordiuk: Ja, in diesem Zyklus hat Giuliani wirklich sein meisterhaftes kompositorisches Talent gezeigt, indem er mit minimalen Mitteln etwas Besonderes geschaffen hat. Zum Beispiel hören wir in dem Stück „Narzisse“ zunächst abfallende Intonationen, die uns eine Gestalt zeigen, die von oben auf uns herabblickt. Dann folgen schnelle Passagen und plötzliche Akzente, die den lebhaften Charakter der Figur zum Ausdruck bringen. Und was für eine Verwandlung im Stück „Rose“: Schon in den ersten, zart aufsteigenden harmonischen Folgen spürt man die Zärtlichkeit und die betörende Süße des Blumendufts. Giuliani ist ein Genie!
Ihor Kordiuk, die Arrangements für Bariton und Gitarre, die auf dieser CD zu hören sind, wurden von dem neapolitanischen Musiker Antonio Grande erstellt. Sie haben Anpassungen an die Textur und Struktur vorgenommen. Was hat Sie dazu veranlasst und was muss man sich darunter vorstellen?
Ihor Kordiuk: Mir hat die Arbeit von Herrn Grande im Großen und Ganzen gefallen. Aber je tiefer ich in die Materie eintauchte, desto mehr stieß ich auf alte Aufnahmen von Roberto Murolo, Sergio Bruni, Fausto Cigliano und anderen. Diese Musik wirkte auf mich sehr schlicht, leicht zugänglich und gleichzeitig authentisch. In den Transkriptionen von Antonio Grande hingegen erschien alles ein wenig zu akademisch, zu korrekt. Daher habe ich mir erlaubt, einige Elemente in der Begleitung zu verändern, wobei die Melodie, die Harmonie und die grundlegende Struktur des neapolitanischen Liedes selbstverständlich unverändert geblieben sind.
Daniel Di Prinzio, Sie sind gebürtiger Venezianer. Was hat Sie als Norditaliener an den Canzone Napolitana fasziniert? Gibt es vergleichbare Canzoni aus Ihrer Geburtsstadt?
Daniel Di Prinzio: Natürlich waren die Melodien aus Venedig ein Teil meiner Kindheit, jedoch haben mich auch die Lieder aus dem Süden Italiens sehr bald angesprochen, vielleicht, weil meine Familie Wurzeln in den Abruzzen hat. Ich erinnere mich, dass der Großvater meinem Bruder und mir oft neapolitanische Motive auf dem Akkordeon vorgespielt hat. Das venezianische Lied stammt von alten Reisegesängen, die insbesondere auf Bootsfahrten dargeboten wurden. Sie sind neben dem Thema Liebe oft geprägt von: Wasser, Wellen, Gondeln und Carneval. Anders als bei den anderen Musikgattungen, haben die venezianischen Lieder den Durchbruch außerhalb Italiens nie wirklich geschafft.
aniel Di Prinzio, Sie stehen in unterschiedlichen, stimmfordernden Bariton-Rollen auf der Opernbühne. Empfindet Ihre Stimme die Canzoni im Vergleich dazu als „Balsam“ oder sind sie auch eine Herausforderung?
Daniel Di Prinzio: Beides zugleich. Die gegenüber modernem Operngesang ganz andere, oft ungestützte Technik musste ich erst erlernen, dazu kommt der Text im neapoletanischen Dialekt, den ich mir zusammen mit Freunden aus der Stadt erarbeitet habe. Zugleich ist diese Form des Gesangs aber auch weniger anstrengend für die Stimme, denn sie verlangt überwiegend leisere Töne.
haben Sie beide das Kordiuk di Prinzio Duo gegründet und haben verschiedene Programme für Gitarre und Stimme entwickelt, darunter Liederzyklen von Franz Schubert und Federico Garcia Lorca. Gibt es Pläne, eines dieser Programme auf CD einzuspielen?
Daniel Di Prinzio: Es gibt viel wunderbare Musik für Gitarre und Gesang. Trotz der vielen Neuerscheinungen auf Tonträger gibt es immer noch Komponisten, die auf eine Wiederentdeckung warten.
Ihor Kordiuk: Pläne gibt es zweifellos! Es gibt sogar ein konkretes Konzept für ein neues Projekt, das auf der Analyse all dessen basiert, was bisher aufgenommen wurde, was die Zuhörer*innen, der Markt und die Streaming-Dienste wünschen – aber in erster Linie darauf, was uns selbst die größte Freude und den intensivsten emotionalen Antrieb gibt. Also, weiter geht’s – und noch mehr!
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