"Neapolitanische Kanzonen gehören seit Enrico Caruso zum festen Repertoire aller italienischen Opernsänger, insbesondere der Tenöre. Der junge Bariton Daniel di Prinzio (Jg. 1998) und der kaum ältere Gitarrist Ihor Kordiuk (Jg. 1992) zeigen in ihrem ersten Album die Entwicklung der Gattung im 19. Jahrhundert auf, kombinieren dabei bekannte und weniger bekannte Titel und stellen jedem der Lieder kurze Stücke aus Mes fleurs chéries op. 46 des neapolitanischen Gitarren-Virtuosen Mauro Giuliani (1781-1829) voran, in denen Eigenarten und Schönheiten unterschiedlicher Blumen mit musikalischen Mitteln phantasievoll charakterisiert werden. Die Verbindung der Lieder mit den Instrumental-Soli geht auch in stilistischer Hinsicht harmonisch auf.
Sozusagen die Geburtsstunde der neapolitanischen Kanzone neueren Typs war der 7. September 1839, als bei der Festa di Piedigrotta Te voglio bene assaje (Ich hab dich so lieb) von Filippo Campanella (1820-1883) erstmals aufgeführt wurde. Lange Zeit hat man dieses Lied Gaetano Donizetti zugeschrieben, dessen Fischergesang Me voglio fa‘ ‘na casa (Ich möchte mir ein Haus bauen) zwei Jahre zuvor im Druck erschienen war. Die Nähe von Volksmusik und romantischem Belcanto war schon in diesen frühen „Canzoni“ unverkennbar. Gegen Ende des Jahrhunderts, in der sogenannten „Belle époque“, erlebte die Gattung dann eine Blütezeit, wobei nun die melancholischen die fröhlichen Elemente zurückdrängten und die modische Dichtung der Dekadenz als Inspirationsquelle an Einfluss gewann. So stammt der Text zu Francesco Paolo Tostis populärem‘A vucchella (Der kleine Mund) von Gabriele d’Annunzio.
Während der lange Zeit in London wirkende Tosti (1846-1916) die Gattung der neapolitanischen Kanzone international im Wortsinne „salonfähig“ machte, blieb die Wirkung des nicht minder fruchtbaren und talentierten Mario Pasquale Costa (1858-1933), der in diesem Album mit drei Titeln vertreten ist, weitgehend auf Italien beschränkt. Er war dort in späteren Jahren auch als Operettenkomponist sehr erfolgreich. Seine Scugnizza (Das Gassenmädchen, UA Turin 1922) gehört zu den Klassikern der italienischen Operette. Weniger bekannt wurde der früh verstorbene Salvatore Gambardella (1871-1913), dessen Furturella das Programm einleitet. Er war nicht nur Autodidakt, sondern soll auch Analphabet gewesen sein, was nicht ausschloss, dass sich anerkannte Dichter für ihn interessierten.
Der venezianische Bariton Daniel di Prinzio, der auf der Bühne bereits in Mozart-Partien hervorgetreten ist, hat wie sein aus der Ukraine stammender Partner Ihor Kordiuk ein Studium an der Musikhochschule München absolviert. Als Duo arbeiten sie seit 2020 zusammen. Ihr Entschluss, die Kanzonen in einem Arrangement für Bariton und Gitarre zu präsentieren, war naheliegend und entspricht dem Charakter der vorgestellten Stücke genau. Intimität war das erklärte Ziel der Interpreten. Tatsächlich suggerieren sie dem Hörer, sich in einer neapolitanischen Taverne zu befinden und nicht in einem Konzertsaal. Der Bariton vermeidet im Vortrag dementsprechend opernhaften Überschwang, die Transposition um einen Ganzton höher hätte die Qualitäten seiner lyrischen Stimme, die erst in der höheren Mittellage Glanz entfaltet, vielleicht noch besser zur Geltung gebracht. Der Gitarrist bezaubert bei den Giuliani-Stücken wie in der Begleitung des Sängers mit leichthändiger Virtuosität, spielerischer Eleganz und den geradezu zärtlichen Tönen, die er seinem Instrument entlockt."
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